Lage in der Ukraine: Nur eine Art von Verhandlungen scheint möglich (2024)

Singapur, Normandie, Italien: Der ukrainische Präsident wirbt vor dem Schweizer Friedensgipfel um Unterstützung. Und kritisiert auffällig offen China. Der Wochenrückblick

Von Alexander Eydlin

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Singapur, die Philippinen, Katar, Frankreich, Deutschland, Italien – die erste Junihälfte widmet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erkennbar der Diplomatie. Der naheliegende Anlass: Die Schweizer Friedenskonferenz am 15. und 16. Juni, von der sich die Ukraine ein Zeichen der Unterstützung in ihrem Abwehrkampf gegen Russland erhofft.

Selenskyjs Reise lässt sich grob in zwei Teile gliedern: Einer davon gilt den Ländern Asiens, der andere dem Westen. In einem hofft er auf symbolischen Beistand, im anderen auf Militärhilfen und politische Allianzen – wie in Schweden, wo er gleich drei Sicherheitsabkommen mit den nordischen Ländern unterzeichnete.

Deutlich heikler verlief Selenskyjs Besuch in Singapur. Der ukrainische Präsident warb dort vor Vertretern asiatischer Länder um eine Teilnahme an der Schweizer Konferenz. Der Aufruf passt in das Muster der ukrainischen Diplomatie seit Kriegsbeginn: auch Staaten des sogenannten Globalen Südens davon zu überzeugen, dass der Krieg kein Regionalkonflikt in Osteuropa sei, der sie nicht betreffe. Und auch kein Stellvertreterkonflikt sei, in dem viele von ihnen den Westen womöglich scheitern sehen wollen. Nicht umsonst hebt die Ukraine immer wieder die Getreideausfuhr in Staaten Afrikas und des Nahen Ostens hervor. 106 Staaten wollen laut Selenskyj an dem Gipfel teilnehmen.

"Wir brauchen die Unterstützung asiatischer Staaten", sagte Selenskyj bei der Shangri-La-Sicherheitskonferenz in Singapur. "Wir wollen, dass Asien das Ende des Krieges unterstützt." Man habe von den Ländern der Region nie Waffen gefordert, es gehe um politische Unterstützung: "Die globale Mehrheit kann sicherstellen, dass (…) Russland, das diesen grausamen Krieg begonnen hat, uns nicht vom Weg abbringen kann, den Krieg zu beenden." Russland wird an der Schweizer Konferenz nicht teilnehmen. Die Vorwürfe an die Regierung in Moskau, sie sabotieren zu wollen, sind nicht neu.

Neu ist aber der Ton, den Selenskyj in Singapur gegenüber Russlands wichtigstem Unterstützer anschlug. China warf er vor, sich von Russland einspannen zu lassen, um die Friedenskonferenz zu stören. Er bedauere, dass "so ein großes, unabhängiges, mächtiges Land wie China ein Instrument in den Händen Putins ist", sagte Selenskyj.

China ein Instrument? Im ukrainischen Staatsfernsehen gehört Russlands wachsende Abhängigkeit vom chinesischen Staatschef Xi Jinping zu den beliebtesten Narrativen, die einen Niedergang von Putins Macht prophezeien. Selenskyjs Vorwürfe an die Regierung in Peking sind aber vor allem ein Bruch mit dem bisherigen Kurs der Ukraine gegenüber China. Die Ukraine hatte China lange umworben und versucht, die ukrainische Sicht auf den Krieg darzulegen – etwa in persönlichen Treffen mit dem chinesischen Sonderbotschafter Li Hui, der neben Moskau auch Kiew besuchte. Nun sagte Selenskyj in Singapur öffentlich, dass China an der Seite Russlands steht.

Denn China weitet seine Energieimporte aus Russland stetig aus, ebenso wie seine Ausfuhren von militärisch nutzbaren Gütern. Ohne chinesische Technologie stünde Putin schwächer da. Und auch für den Schweizer Gipfel steht China nicht zur Verfügung. Eine Teilnahme an der Konferenz sagte das Land Berichten zufolge noch vor Selenskyjs Kritik in Singapur ab. Putin dürfte zufrieden sein, Xi dabei nichts verlieren.

Die Konferenz werde in Peking vor allem als Versuch der Ukraine betrachtet, "möglichst viel Öffentlichkeit für ihre Position (zu) schaffen", sagte der chinesische Sicherheitsexperte Zhou Bo jüngst der ZEIT. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz, der im April vergeblich versuchte, Xi zu einer Teilnahme an der Konferenz zu überreden, sagte in seiner Regierungserklärung im Bundestag über den Schweizer Gipfel: "Es wird dort noch keine Friedensverhandlungen geben." Solange Russland glaube, sich militärisch durchsetzen zu können, seien Verhandlungen "weit entfernt".

Dies zu erreichen, gehört zu Selenskyjs Zielen im zweiten, für ihn wohl angenehmeren Teil der Reise. Am Donnerstag kam er zum 80. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie in Frankreich. Neben Präsident Emmanuel Macron trifft er dort auch den wichtigsten Unterstützer der Ukraine: US-Präsident Joe Biden.

Am heutigen Freitag sprach er mit ihm in Paris, ein weiteres Gespräch ist eine Woche später beim G7-Gipfel im italienischen Bari geplant. Den US-Präsidenten traf Selenskyj zuletzt vor einem halben Jahr in Washington, die persönlichen Begegnungen zwischen den beiden sind rar. Biden sandte in Paris ein versöhnliches Signal: Die Ukraine sei ein "Bollwerk" gegen Russlands Aggression, sagte er, die USA stünden "voll und ganz" an ihrer Seite. Und er bat um Verzeihung für den monatelangen Ausfall von Waffenlieferungen im Winter.

Konkret dürfte sich Selenskyj von Biden die Zusage von dringend benötigten Luftverteidigungssystemen erhoffen, im günstigsten Fall eine Ausweitung der Erlaubnis, strategisch wichtige russische Militärstandorte anzugreifen – und so Russlands Aussichten auf einen militärischen Erfolg zu hemmen. Verhandlungen dieser Art – die einzigen, die derzeit möglich scheinen – halten seit mehr als zwei Jahren an.

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835 Tage seit Beginn der russischen Invasion

Die Zitate: Kein Angriff auf die Nato

Die Unterstützerländer der Ukraine begründen ihre Militärhilfen für das Land nicht nur mit dessen Selbstverteidigungsrecht – sondern auch damit, dass die Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Ukraine hinausgehen könnten. Vor allem die baltischen Staaten sehen sich in Gefahr, und auch der kurz nach Kriegsbeginn eingeleitete Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens legten solche Befürchtungen offen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) rief das Ziel aus, bis 2029 bereit zur Verteidigung zu sein.

Putin, der bis zum letzten Tag vor der Invasion der Ukraine einen bevorstehenden Einmarsch leugnete, weist diese Befürchtungen ab. Russland "zu einem Feindbild zu formen" schade nur den westlichen Ländern selbst, sagte er Vertretern internationaler Nachrichtenagenturen. Dass sein Land eine territoriale Expansion plane, sei erfunden.

Sie haben sich ausgedacht, dass Russland die Nato angreifen will. Sind Sie komplett verrückt geworden? Dumm wie dieser Tisch? Wer hat sich das ausgedacht? Das ist Unsinn, Bockmist!

Trotz einer deutlichen Zunahme hybrider Operationen gegen Nato-Länder wird auch im Westen kein direkter russischer Angriff auf Nato-Gebiet erwartet – zumindest nicht kurzfristig. So sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag bei einem Besuch in Helsinki:

Wir sehen keine unmittelbare militärische Bedrohung gegen einen Nato-Verbündeten.

Die wichtigsten Meldungen: Energiekrise, Kampf bei Charkiw, französische Jets

Die Folgen der russischen Angriffe auf das Energiesystem der Ukraine spitzen sich zu. "Die Situation ist sehr ernst", sagte Regierungschef Denys Schmyhal bei einer Regierungssitzung. Den Angaben zufolge verlor die Ukraine neun Gigawatt an Kraftwerksleistung – etwa ein Sechstel der Stromproduktion vor 2014. Die Folgen sind gravierend und werden wohl lange anhalten: Strommangel werde "in den kommenden Jahren Teil unseres Alltags sein", sagte Schmyhal.

Die Ukraine, die vor dem Krieg noch Strom exportiert hatte, greift nun verstärkt auf Importe zurück. Nach der Zerstörung vieler Wärme- und mehrerer Wasserkraftwerke sind nun ihre Atomkraftwerke das Rückgrat des Energiesystems. Doch ihre Leistung reicht nicht aus, weil auch das stärkste AKW des Landes in Saporischschja unter russischer Besatzung steht. Kiews Behörden versuchen, die Auswirkungen des Mangels zu managen: Vier bis sechs Stunden Strom am Tag sollen den Einwohnern der Hauptstadt garantiert werden. Die Preise stiegen zuletzt um mehr als 60 Prozent.

Im russischen Grenzgebiet nördlich der Region Charkiw kam es zu den ersten ukrainischen Angriffen auf russische Truppen, nachdem die USA die Auflagen für den Einsatz westlicher Waffen für diesen Frontabschnitt gelockert haben. Russische Militärblogger verbreiteten am Montag Fotos eines S-300/400-Flugabwehrsystems, das in Flammen stand. Es handle sich um das Ergebnis eines ukrainischen Angriffs mit GMLRS-Raketen. Die Fotos zeigen zwei zerstörte Startrampen für Raketen, der Angriff habe sich bereits am Wochenende ereignet.

S-300-Raketen werden von Russland häufig für Angriffe auf Bodenziele in Charkiw genutzt. Da sie nicht für solche Einsätze ausgelegt sind, sind die Angriffe meist sehr unpräzise und gefährlich für Zivilisten. Das Ziel, S-300-Stellungen zu zerstören und die Attacken zu verhindern, ist eines der zentralen Argumente der Ukraine für Angriffe auf russisches Gebiet. Der bisher letzte von Charkiws Behörden gemeldete S-300-Angriff ereignete sich am 31. Mai, also einen Tag bevor die USA ihre Erlaubnis erteilten. 25 Zivilisten wurden verletzt.

Von den neuen Angriffen auf russische Truppen in Russland dürfte sich die Ukraine auch einen Rückgang von Attacken mit Drohnen des Typs Lancet erhoffen. Anders als Shahed-Drohnen aus iranischer Produktion, die meist gegen die zivile Infrastruktur eingesetzt werden, gelten Lancet-Angriffe militärischen Zielen wie Raketenwerfern und Haubitzen. Die exilrussische Beobachtergruppe CIT verzeichnete zuletzt einen starken Anstieg der Attacken: 285 Lancet-Angriffe habe es im Mai gegeben, 126 mehr als im Vormonat. Besonders häufig hätten sie Waffensysteme aus ukrainischer Produktion getroffen, die das Land wegen des Einsatzverbots westlicher Waffen nah an die Grenze verlegen musste.

Eine von der Ukraine erhoffte Ausweitung der neuen Einsatzerlaubnis etwa auf ATACMS-Raketen, die bis zu 300 Kilometer weit reichen, schloss US-Präsident Biden am Donnerstag klar aus. "Wir erlauben keine Angriffe auf 200 Meilen nach Russland hinein", sagte er dem US-Sender ABC. Nicht nur in der Ukraine sorgt die Fortsetzung der Einschränkungen für die Selbstverteidigung des Landes für Unmut: Mike Turner, der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus, forderte das Verteidigungsministerium dazu auf, ATACMS-Angriffe zuzulassen.

Gebiete mit schweren Kämpfen, letzte 24h
Russische Befestigungsanlagen
Russische Kontrolle
Vortag
seitKriegsbeginn
vorKriegsbeginn
Zurückerobert
Vortag
Gegenoffensive
Quelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Neben dem F-16 wird die Ukraine einen weiteren westlichen Kampfjet-Typ erhalten. Frankreichs Präsident Macron hat dem Land Kampfjets des Typs Mirage-D zugesagt. Ein Ausbildungsprogramm für Piloten soll nun starten, sagte er den Sendern TF1 und France 2. Wie viele Flugzeuge Frankreich liefern wolle, sagte Macron nicht. Man werde sich an den Zahlen von F-16-Lieferländern orientieren. Damit dürfte es um etwa zwei Dutzend Flugzeuge gehen.

Die Mirage-D ist eine der moderneren Versionen des Mirage-Typs und galt als eines der besten Mehrzweckkampfflugzeuge der Neunzigerjahre. Anders als F-16-Jets kann die Maschine Marschflugkörper des britischen Typs Storm Shadow oder des französischen Äquivalents Scalp-EG tragen. Somit könnten sie die ukrainische Flotte an älteren sowjetischen Su-24-Kampfbombern, die derzeit dafür eingesetzt werden, langfristig ersetzen. Die Jets sollen gegen Jahresende in der Ukraine eintreffen.

Waffenlieferungen und Militärhilfen: Luftverteidigung aus Italien

Im April hat Selenskyj die westlichen Unterstützerländer gebeten, sieben weitere weitreichende Flugabwehrsysteme zu liefern. Fast zwei Monate später ist Italien das zweite Land, das mit einer konkreten Zusage reagiert. Die Ukraine werde ein Luftverteidigungssystem des Typs SAMP/T erhalten, kündigte der italienische Außenminister Antonio Tajani an.

Das von Italien und Frankreich hergestellte System ist das einzige aus europäischer Produktion, das ballistische Raketen abschießen kann – und ähnelt damit dem US-amerikanischen Patriot. Eine weitere Patriot-Batterie hatte Deutschland im April zugesichert. Die Lieferung eines weiteren Patriot-Systems prüft derzeit Rumänien.

Der Ausblick: Wiederaufbaukonferenz und eine Rede im Bundestag

Auf einer Konferenz in Berlin will die Bundesregierung am kommenden Dienstag und Mittwoch weitere internationale Unterstützung für den Wiederaufbau der Ukraine mobilisieren. Die Konferenz wird von Scholz und Selenskyj eröffnet. Es werden mehr als 1.500 Teilnehmer erwartet, die über den Wiederaufbau der Ukraine beraten wollen. Früheren Ankündigungen zufolge soll es sowohl um größere Maßnahmen nach Kriegsende gehen, als auch darum, schon jetzt bestimmte Projekte anzugehen. Mehr als 200.000 Gebäude sind im Krieg zerstört worden, der finanzielle Bedarf liegt bei Hunderten Milliarden Euro.

In Berlin wird Selenskyj am Dienstag auch im Bundestag sprechen. Das erfuhr die Nachrichtenagentur dpa aus Parlamentskreisen, zuvor berichteten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Spiegel. Die Initiative geht demnach auf den Abgeordneten Robin Wagener (Grüne) zurück, dem Vorsitzenden der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe. Formell angekündigt hat der Bundestag eine entsprechende Sondersitzung noch nicht. An das deutsche Parlament wandte sich Selenskyj zuletzt wenige Wochen nach Kriegsbeginn im März 2022 – damals noch zugeschaltet aus Kiew.

Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine in unserem Liveblog.

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